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Freies Denken ohne Bevormundung

Während der Sommerferien hatte ich zwei unterschiedliche Erlebnisse, die beide zeigten, wie sehr sich die Umgangsformen im gesellschaftlichen Miteinander verändert haben: Offensichtlich halten viele Mitmenschen es heute für gerechtfertigt, in das private Leben Anderer einzugreifen, wenn deren Worte oder Taten nicht den eigenen Wertvorstellungen entsprechen. Wo früher etwas privat im Stillen gedacht wurde oder mit einem Partner oder einer Partnerin, einem Freund oder einer Freundin unter vier Augen besprochen wurde, da wird heute übergriffig eine Art öffentlicher Belehrung praktiziert, die ich als Ausdruck von Arroganz wahrnehme.

Vor etwa vier Wochen stand ich mit meinem Einkaufswagen an der Kasse meines örtlichen Supermarktes. Der Wagen enthielt allerlei Lebensmittel, auch süße Kalt-Kaffee-Getränke, Fruchtjoghurt und Schokolade, lauter Leckereien, die ich bewußt gekauft hatte, weil ich sie mag. Hinter mir in der Schlange stand eine Bekannte, mit der ich immer wieder in der Kommunalpolitik zu tun hatte; einen nennenswerten privaten  Kontakt gab es bisher nicht. Nach einem ausführlichen Blick auf meine Einkäufe begann sie, diese in deutlicher Lautstärke zu kommentieren: Sie wies mich auf das künstliche Aroma hin, beklagte die überflüssige Verpackung und erklärte mir schließlich den ökologischen Gesamtzusammenhang. Gefragt hatte ich nach all dem nicht.

Etwas heftiger wurde es vor zwei Wochen in einer deutschen Universitätsstadt. Ich sprach mit meiner Tochter in einem Museumscafe in normaler Lautstärke, weder flüsternd noch schreiend, über die Klebeaktionen der sogenannten Letzten Generation. Das private Gespräch war sachbezogen, aber sehr kontrovers; ich vertrat klar den Standpunkt, dass die Aktionen kriminell seien, da die betroffenen Bürgerinnen und Bürger wegen Nötigung nicht ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben könnten. Meine Tochter widersprach dem und verwies auf die Absichten der Gruppe. Urplötzlich erhob sich an einem etwa vier bis fünf Meter entfernten Tisch der einzige Fremde im Raum, ein Mann in den Zwanzigern, und mischte sich mit lauter Stimme in das Gespräch: Wenn er so etwas höre, könne er nur noch kotzen. Anfeindungen von Aktivisten in dieser, gemeint meiner, Art müssten verboten werden. Auf kurzen Zuruf hin besann sich der Lauscher und ungefragte Gesprächsteilnehmer glücklicherweise und verließ das Cafe, nicht ohne seinen Protest durch weiteres lautes Schimpfen auszudrücken.

Wo ist der Zusammenhang ? Beide eigentlich recht unterschiedliche Situationen leben von dem Grundgedanken, dass jemand Anderes an eigenen Maßstäben gemessen und in aller Öffentlichkeit bewertet werden darf; im zweiten Fall mischt sich ein Unbeteiligter dazu in ein privates Gespräch ein. Das Verhalten Anderer wird nicht als eine von mehreren Möglichkeiten betrachtet, sondern als minderwertige Option; die eigene Meinung und Verhaltensweise ist höherwertig.

Beide Beispiele sind leider keine Einzelfälle; auch der laut in einer Gruppe formulierte Hinweis, dass jemand statt mit dem Auto doch mit dem Fahrrad fahren könne, gehört dazu. Ein nett gemeinter Satz unter Freunden stört sicher niemanden, wohl aber die übergriffige öffentliche Bevormundung durch Menschen, die sich für überlegen halten. Im Grunde entspricht das Denken hinter diesem Handeln im schlichten Alltag genau dem Denken, das zur rücksichtslosen Blockadepolitik der Extremisten der Letzten Generation führt: Mein Weltbild ist richtig und unantastbar.

Ohne mich, denn ich stelle auch meine eigenen Gedanken in Frage.