Ganz ausschließen kann ich nicht, dass es bei mir einfach an der Vergeßlichkeit im Alter liegt, aber bevor ich stimmig das Gegenteil bewiesen bekomme, glaube ich fest daran, dass ich vor vielen Jahren als Student oder junger Erwachsener nicht durch Zeitungen geführt wurde: Niemand hat mich darauf hingewiesen, für wen und warum ein bestimmter Artikel lesenswert sein soll. Heute finde ich diese Hinweise bei meiner regionalen Zeitung immer wieder.
Warum eigentlich ? Glaubt die Redaktion, dass ich durch Überschriften und Bebilderung nicht selbst bemerke, worum es geht ? Oder wird vermutet, dass die Leserinnen und Leser nicht eigenständig erkennen, wie wichtig bestimmte Informationen sind ? Oder steckt gar dahinter die Erkenntnis, dass das Leseverständnis vieler Erwachsener so sehr gesunken ist, dass Hilfe zum inhaltlichen Erfassen von Artikeln notwendig ist.

Hinweise zu einem Artikel über steigende Kosten beim Emder Freibad im Stadtteil Borssum
So gelenktes Lesen hat auch eine ganz andere Seite, wie mir bei einem Artikel ganz deutlich wurde, der sich mit den erneuten Kostensteigerungen bei der Renovierung des nicht notwendigen zweiten Freibades in Emden befasste. Wer nicht genug Zeit oder einfach keine Lust hat, jeden Zeitungsartikel komplett zu lesen und sich daher auf die Hilfe stützt, welche Leserinnen und Leser angesprochenen werden sollen, wird möglicherweise nicht nur zu Inhalten hingeführt, sondern auch von ihnen weggelenkt. Unter den Gesichtspunkten, die zum Lesen des Artikels anregen, fehlen wichtige negative Aspekte des Bauvorhabens; die erneute Kostensteigerung wird nur als Anlass der Berichterstattung erwähnt, der Zusammenhang zur Verschuldung der Stadt und die Kontroverse um die Notwendigkeit des Baus überhaupt nicht. Beim schnellen Lesen der Hilfestellung bleiben als wesentliche Angesprochene: Schwimmer, Menschen aus Borssum und Ehrenamtler.
Der vermeintliche Service erinnert mich stark an die Hilfestellungen, die zum Beispiel Facebook während der Pandemie bot, wenn in Beiträgen Meinungen oder Behauptungen zum Thema Covid geäußert wurden. In diesem Zusammenhang eingefügte Verweise und Erklärungen dienten dem Ziel, falsche Informationen zu entlarven; eine Reihe von damals als falsch bezeichneten Informationen stehen heute jedoch ganz anders da.
Ich nehme an, dass es der Redaktion bei dem beschriebenen gelenkten Lesen nicht um bewusstes Manipulieren von Meinungen geht, sondern subjektiv wirklich ein Service geboten werden soll, aber letztlich wird hier ein neues Mittel zur Steuerung von Meinungen geprobt und eingeführt. Wer selbst denkt, braucht das nicht.
Foto Berthold Haase